Samstag, 26. Juni 2010

Marie NDiaye: Ganz leise, doch mit aller Macht

In dieser neuen Reihe möchten wir Ihnen Schwarze Menschen vorstellen, für die nicht Afrika, Südamerika, die Karibik oder die USA Heimat ist. 
Unsere Protagonisten sind auf unserem Kontinent geboren oder vor langer Zeit schon hier "hängengeblieben". Heute gehören sie zu den Menschen, die anderen etwas zu vermitteln haben, die Wichtiges leisten und/oder an denen die Hoffnung vieler Anderer hängt. Und dennoch werden sie oft noch als "Fremde" gesehen von ihrer Umgebung, als Exoten, die eigentlich hier nichts verloren haben.
Die Französin Marie NDiaye soll die Erste sein in unserer Reihe. Sie ist Bestsellerautorin und eine Frau, die deutlich sagt, wenn ihr etwas nicht gefällt - so wie gerade geschehen über ihr Heimatland Frankreich. Vorgestellt wird uns Marie von Fadrina Arpagaus, die uns in einem ganz bemerkenswerten Artikel in "der Freitag" die vielgelesene Autorin näherbringt:



Wir haben einige Passagen des Porträts ausgewählt und zum besseren Kurz-Verständnis umgestellt - aber bitte lesen Sie  wenn möglich den kompletten Artikel.

Sieh, das Gute liegt so fern
von Fadrina Arpagaus/der Freitag

...Marie NDiaye sammelt Länder und Städte, und die sind wichtiger als die Hautfarbe. Ihre Protagonisten sind mal schwarz, mal weiß, manchmal unentschieden undefinierbar. Orte hingegen sind das Terrain, an dem sich vom düsteren menschlichen Seelenleben erzählen lässt auf der Suche nach dem, was hinter der Scham, der Schuld und dem Verdrängten liegt. In NDiayes Romanen wirken Orte physisch: Der Straßenstaub von Dakar, der undurchdringliche Nebel von Bordeaux, die fiebrige Hitze der Französischen Antillen dringen durch die Poren und verkleben die Sinne, sie hüllen und lullen ein. Es sind Albträume aus Schweiß, Dreck und gelbem Licht, die den Leser mit trockenem Gaumen zurücklassen, geblendet und verkrustet.
Diese äußeren Topografien für die inneren Abgründe führen immer wieder in die Familie, den Hort gegenseitiger Grausamkeiten, wo die Verletzungen am tiefsten sitzen und am langsamsten heilen, wie exemplarisch in NDiayes 2001 mit dem Prix Femina ausgezeichneten Roman Rosie Carpe. Dort reist eine verwahrloste junge Mutter ihrem halbkriminellen Bruder nach Guadeloupe nach. In der Hitze der Karibikinsel, in der perverse Leidenschaften und Lieblosigkeiten stinken wie tote Tiere am Strand, lässt Rosie ihr eigenes Kind mit Rattenpisse verseuchte Guaven essen und dabei fast verrecken, während ihr Bruder im Urwald ein Verbrechen begeht, ihre Mutter die jüngste Tochter zur Prostitution zwingt und der Vater mit seiner Geliebten, einer zurückgebliebenen Schwarzen, vor sich hin vegetiert...


...Marie NDiaye ist französisch, aufgewachsen in der Pariser Banlieue Bourg-la-Reine mit ihrer französischen Mutter und ohne ihren senegalesischen Vater. Eine Provinzfranzösin also, eine Musterschülerin, eine, die mit 17 Jahren in die Vorortsbahn nach Paris stieg, dort das Manuskript ihres ersten Romans Quant au riche avenir bei Verlegern deponierte, und, als sich drei Tage später die renommierten Éditions de Minuit meldeten und den Roman haben wollten, ganz einfach dachte, dass das so sein müsse, wenn man Schriftsteller ist. Eine im Literaturbetrieb Privilegierte. Eine, die mit 43 Jahren schon auf 9 Romane, unzählige Theaterstücke und Erzählungen und insgesamt 25 Jahre Schaffen zurückblicken kann.
Fest steht: Marie NDiaye ist in Frankreich nicht nur eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen dieser Tage, sondern auch eine, die immer wieder klare Worte für das findet, was ihr nicht passt. Schon einmal sah sie sich gezwungen, Position zu beziehen, und schon einmal stand sie zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jean-Yves Cendrey, ungewollt im Licht der Medien. Das war im Jahr 2001: Im normannischen Cormeilles, wo die beiden mit ihren Kindern damals lebten, erfuhr NDiaye, dass viele Mädchen vom Grundschullehrer über Jahre sexuell missbraucht worden waren. Viele im Dorf wussten Bescheid, niemand redete. Bis Cendrey den Mann abholte, auf der Gendarmerie ablieferte und dem einvernehmlichen Nicht-wissen-Wollen ein Ende setzte. Die beiden erreichten zwar die Verurteilung des Lehrers, störten jedoch die Dorfruhe so sehr, dass für sie dort kein Bleiben war.
Der Wechsel zwischen Stadt und Land bedeutet für das Paar NDiaye-Cendrey aber weder Flucht noch politisches Exil, sondern ist ihnen ein Lebensprinzip. Die beiden Schriftsteller wohnen dort, wo Interesse und Stipendien sie hinführen: in Rom, Katalonien, England, Guadeloupe, immer wieder in Frankreich und jetzt zum zweiten Mal nach 1993 wieder in Berlin. Es ist dieses ständige Reisen und Fremdsein, das Marie NDiayes Leben und Schreiben grundiert, ein Fremdsein, dass sie nicht aus ihrer Herkunft bezieht, sondern sich regelmäßig selbst injiziert. Sie ist keine, die zerrissen zwischen Afrika und Europa steht und diesen Konflikt zum großen Thema ihres Schreibens machte, keine, die gegen den westlichen Kolonialherrenblick und für die schwarze Selbstbehauptung schreibt....

...In ihrem neuen Roman Drei starke Frauen verbindet NDiaye nun erstmals Frankreich und Senegal, das Herkunftsland ihres Vaters, das sie nur von Reisen kennt. Drei Erzählungen, lose aufeinander bezogen, durchkreuzen die Kontinente in verschiedenen Richtungen. Da ist zuerst die Pariser Anwältin Norah, die auf das Drängen ihres Vaters nach Senegal reist, wo ihr Bruder im Gefängnis sitzt, der Bruder, den ihr Vater gegen den Willen der Mutter einst nach Dakar entführte. Da ist zweitens Fanta, die schöne Lehrerin aus Dakar, die arbeitslos in der französischen Provinz festsitzt. Und schließlich Khady, kinderlos und von ihrer Familie verstoßen, die sich allein auf den beschwerlichen Weg nach Europa macht, das für sie nur ein Wort bleiben wird: Sie stirbt an der Grenze von Marokko, am Zaun nach Ceuta.
Man mag bedauern, dass Drei starke Frauen ohne die albtraumhaft-irrationalen Zustände von NDiayes früheren Texten auskommt. Das Bedrängende erscheint diesmal von einer anderen, völlig unerwarteten Seite. Offen stellt der Roman immer wieder eine Frage, die in ihrer Einfachheit fast eine Provokation ist: Was heißt, gut zu sein? Und die Scham, die sie auslöst, zeigt, wie ungewohnt es ist, heute darauf eine Antwort zu suchen. Die Frage nach dem Guten zu stellen und das inmitten einer gewalttätigen Welt – darin liegt die Stärke dieses fein komponierten Werks...


Im Gespräch: Marie NDiaye: Glauben Sie an Magie, Madame?

Marie NDiaye: Eine Sprache, leichter als Luft

Marie NDiaye – Wikipedia  

Foto:DANKE! MERCI!  Foto: Mychele Daniau/AFP/Getty Images
.....

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen